stones & voices - Markus Heinsdorff und Martin Rosenthal

Die Welt, das Leben, die Kunst

Wer sich im Computernetz Internet in den Tausenden thematischer Diskussions-, Erzähl- oder Klatschrunden zurechtfinden will, geht nach Stichworten und Regionen vor. In diesen „Newsgroups" tauscht man sich über alle erdenklichen Fragen unserer Lebenswelt aus, vom hohen wissenschaftlichen Niveau bis zum Smalltalk auf dem virtuellen Marktplatz. Oder man navigiert in den täglich wachsenden Archiven des World Wide Web, einem Hypertext-System, das dem User ungezählte Ebenen und Verzweigungen von Text- und Bilddokumenten eröffnet und ihn über vorprogrammierte „Links" zu den Orten der Netzwelt führt. Die Wahrnehmung löst sich ab von der Linearität eines Sprechers, einer Geschichte. Im Internet verlieren Anfang, Ende und Reihenfolge ihre gewohnte Bedeutung. Das Zappen durch Dutzende von Fernsehkanälen hat ähnliche Effekte.

Markus Heinsdorffs Idee einer globalen Vielstimmigkeit der Kunst stellt Bezüge zur Netzkommunikation her, ohne das Medium Computer je zu benutzen. Durch die mediale Konservierung von Interviews per Video und durch die Inszenierung der Gleichzeitigkeit entsteht ein simultanes, vieldimensionales Stimmengewirr, das vor allem auch eine Szenerie von Gesichtern ist. Künstlerische oder wissenschaftliche Werke sind nicht das Thema der Videos, sondern Personen, die denken und sprechen. Ihr Diskurs ist widersprüchlich, aber ihr Thema durchgängig: die Welt, das Leben, die Kunst. Der Zufall ist bei der Auswahl stärker als ein System, die Eigendynamik des Redeflusses wichtiger als dessen Steuerung. Die Vielheit ist Programm, und ihr folgt die Fragmentierung geschlossener Weltentwürfe als maßgebliche Aussage.

Nochmals zur Welt der Datennetze: Netzgemeinschaften und Computerkonferenzen, Rollenspiele auf der virtuellen Bühne kollektiver Spiele oder spontane Echtzeit-Unterhaltungen auf dem Bildschirm beleben den Cyberspace mit den unterschiedlichsten Formen des Soziallebens. Daß sich in den vergangenen Jahren verstärkt Künstler mit Netzstrukturen, mit den Möglichkeiten globaler Kommunikation befaßt haben, zeigt das Bedürfnis, die oft technophil verbrämte Netzkultur zu besetzen, zu reflektieren und als Teil, vielleicht als Vorschein der Zukunft unserer allgemeinen Kultur zu verstehen.

Das künstlerische Prinzip der Voices heißt, Reaktionen auszulösen und diese aufzusammeln und zu inszenieren, zu arrangieren. Das ist kein kuratorisches Prinzip, sondern eher Lust, durch einfache Rahmenbedingungen dynamische, offene Systeme zu definieren, die ihr Eigenleben entfalten. Global Bridge ist eine einleuchtende Metapher hierfür, eine „virtuelle Gemeinschaft" im Computernetz wäre eine andere.

Stefan Iglhaut
freier Ausstellungskurator, ehem. Siemens Artforums, EXPO 2000

 

stones & voices
Gabriele Kübler

 

Anmerkung zu einem Stein und zu vielen Stimmen

Wir meinen, etwas war schon vor uns da. Sicher sind wir nicht.
Grau, rund, glatt, fest, hart, reglos.
Wir sehen, fühlen, wissen, benennen ein Etwas:
ein Stein, ein Kieselstein.
Das Sehen, Fühlen, Wissen verändert ihn.
Er ist warm in der Hand und leuchtet im Wasser. Für uns.
Der gesehene, gefühlte, gewusste Stein hat seine Autonomie verloren.
Er ist nicht mehr Natur, existiert nicht an sich und auch ohne uns,
sondern ist für uns.
Der Mensch hat den Stein zu seinem Werkzeug gemacht,
funktional, religiös, ästhetisch.

Rain Flower Pebble, ein Kieselstein, ein besonderer Stein.
Vom Himmel gefallen, ins Wasser gelegt, phantastisch schön.
Gar nicht mehr wie ein Stein eigentlich, sondern wie ein Bild,
gar nicht mehr Natur eigentlich, sondern Kunst.
Wir machen ihn dazu.

Was Kunst ist, wird gefragt. Jeder hat eine Stimme,
jeder antwortet für sich. Wir hören viele Stimmen.
Die Stimmen sind leise und/oder laut,
die Antwort kommt zögernd und/oder spontan,
die Stimmung ist resigniert und/oder aggressiv.
Kunst ist Erinnerung und/oder Zukunft.
Kunst ist Hoffnung und/oder Verzweiflung.
Kunst ist Abbild der Gesellschaft und/oder Ausdruck des Individuums.

Kunst ist Kommunikation und/oder Isolation.
Kunst ist Revolution und/oder Regression.
Kunst braucht Moral und/oder Kunst ist Amoral.

Kunst ist nicht mehr möglich in dieser Welt und/oder
Kunst ist die einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu überleben.
Wir erwarten zuviel.

Eines ist einfach: Kunst ist nicht Natur.
Kunst ist nicht für sich, sondern für uns.
Kunst war nicht vor uns, wir sind die Bedingung ihrer Möglichkeit.
Wir - von uns hängt es ab. Wir machen es.
Wir sehen, fühlen, hören, sprechen, wissen, wollen.
Ein Stein liegt ruhig im Wasser.

Dr. Gabriele Kübler
Kuratorin der Stiftung für konkrete Kunst, Reutlingen

 

stones & voices
Noemi Smolik

 

Die Welt als Kreuzung

Eines der entscheidensten Ereignisse dieses Jahrhunderts ist die Erkenntnis, dass es keine universellen Regeln gibt. Diese Erkenntnis verdanken wir der Sprachanalytik, die uns lehrt, dass die Sprachsysteme keinen absoluten Regeln unterliegen, sondern jedes System seine eigenen Regeln entwickelt und ein Austausch nur innerhalb dieser bestimmten Regeln möglich ist. Daher spricht auch der Sprachanalytiker Ludwig Wittgenstein bei seiner Erforschung der Sprache von „Sprachspielen". Damit gibt er eindeutig zu verstehen, dass jedes dieser verschiedenen Spiele durch Regeln definiert wird, die die Eigenschaften und den möglichen Gebrauch der Spiele bestimmen, genauso wie das Schachspiel durch einen Komplex von Regeln organisiert wird, der die Eigenschaften der Figuren bestimmt und die erlaubte Art, sie zu bewegen. Ohne Regeln gibt es kein Spiel. Und die Regeln jedes Spiels haben ihre Begründung nicht in sich selbst, sondern sind das Ergebnis einer Abmachung.

Heute wissen wir, dass es sich genauso mit allen anderen Zeichensystemen verhält, auch mit denen der bildenden Kunst. Das heißt, dass es auch für die Kunst keine in sich selbst begründeten, absoluten Regeln - wie es noch die Moderne glaubte - gibt, sondern dass die jeweiligen Regeln auch in der Kunst nur die Folge einer Abmachung, einer Vereinbarung sind. Und genau darauf wollte Marcel Duchamp hinaus, als er im Jahre 1917 in seiner skandalösen Geste ein einfaches Pissoir zum Produkt hoher Kunst erklärte. Er wollte zeigen, dass der Wert eines Kunstwerkes in der heutigen Gesellschaft keinen festen Regeln unterliegt, sondern dass das, was als ein Kunstprodukt erkannt wird, von einer Verabredung innerhalb einer Gruppe abhängt, sich also wie ein Spiel verhält. Diese Erklärung eines Pissoirs zum Produkt hoher Kunst war zur damaligen Zeit ein genialer Zug, der jedoch von der kommenden Kunstentwicklung weitgehend unberücksichtigt blieb - man tat weiter so, als ob es universelle Regeln gäbe - und der erst heute in seiner ganzen folgenreichen Tragweite erkannt wird.

Duchamp selbst wusste, was er tat. Er zog sich bis auf weiteres von der Kunstproduktion zurück und es ist kein Zufall, dass er sich dem wahren Schachspiel widmete, das er zur höchsten Kunst erhob. 1932 erschien dann sein Schachbuch, das den Titel „Opposition und die Schwesterfelder sind vereint" trägt. Drin beschreibt er eine Spielsituation, in der fast keine Figuren mehr auf dem Brett sind und der Gewinn davon abhängt, ob der König ein Feld in der Opposition und einer bestimmten Entfernung zum gegnerischen König besetzen kann oder nicht. So unternehmen beide Könige einen einsamen Spaziergang quer über die Felder und tun so, als ob sie frei wären. Doch jeder ihrer Schritte unterliegt eigenen Regeln, und die geringste Abweichung von diesen Regeln ist verhängnisvoll.

Damit beschreibt Duchamps eine Situation, die heute in der Kunst eingetreten ist. Es gibt nicht länger universelle Regeln für die Kunst, dafür aber eine ganze Reihe von Spielen, die über eigene Regeln verfügen, die jedoch nur innerhalb des jeweiligen Spieles gültig sind. Die Kunst ist pluralistisch geworden. Und vor diesem Hintergrund zeigt sich auch das Projekt der Moderne als ein Spiel, das aus Regeln bestand, die ausschließlich das Ergebnis einer Abmachung waren, die der christlich geprägte, in westlicher Philosophie gebildete und auf Beherrschung der Welt ausgerichtete weiße Mann traf. Und es wird plötzlich klar, dass die moderne Kunst ein Ausschließlichkeitssystem war, das alle anderen Spiele blockierte, die aus der Erfahrung anderer Kulturen gewonnen werden können und die uns für andere Spiele mit anderen Regeln offen machen.

Dr. Noemi Smolik
Freie Kunsthistorikerin, Bonn